1. Musiktheater
Tempus Dei - des Menschen Zeit (1979)
Ein musikalisches Mysterienspiel für Sprecher, Solisten, Chor (vom Tonband), Orgel und großes Orchester
Text: Jörg Zink
V: Breitkopf & Härtel
UA: 14. Juni 1979, Nürnberg, St. Sebald, im Rahmen des Deutschen Evangelischen Kirchentages
Inszenierung: Hans-Peter Lehmann
Bühnenbild und Kostüme: Waltraud Engelberg
Choreographie: Horst Müller
Arend Baumann, Bass (Adam); Kristina Goranceva, Sopran (Eva); Friedemann Kunder, Bariton (Bauer); Klaus Lange, Tenor (Handwerker); Andreas Förster, Bariton (Forscher); Cesare Curzi, Tenor (Technokrat); Fabio Giongo, Bass (Fürst Welt); Wilhelm Teepe, Tenor (Johannes); Uta Kutter, Sprecherin (Die Zeit); Hesso Huber, Sprecher (Paulus); Cappella Sebaldina; Mitglieder des Ballettensembles des Musiktheaters; Klaus Hashagen, Elektronik; Das Philharmonische Orchester Nürnberg; Leitung: Wolfgang Gayler
Ob die Stunden des Menschen und seiner Kultur auf dieser Erde, seines Geistes und seiner Erfindungen gezählt seien, das ist das Thema der Gegenwart. Die Gefahr ist so groß, dass, wer sie deuten kann, sie deuten muss. Denn die Gefahr wird umso größer sein, je ängstlicher sie verschwiegen wird. Woher soll aber heute Hoffnung kommen?
Über die Entwicklung und ihre einzelnen Faktoren, über die Situation und ihre Kennzeichen reden Fachleute und Laien. Aber die Entwicklung und die Situation haben nicht nur ihre Merkmale, sondern auch ihren Hintergrund. Nicht nur die Seele des Menschen rührt an die Grenze eines Mysteriums, auch die Welt, so überschaubar, so deutbar sie scheinen mag, grenzt nach allen Seiten an ein Geheimnis. Der Mensch handelt nicht allein, und selten handelt er so frei, wie er zu handeln meint. Wer treibt ihn? Wer steuert ihn?
Die Kirche hat seit vielen Jahrhunderten immer wieder die Form eines Mysterienspiels gewählt, um der Hintergründigkeit des Geschehens in der Welt des Menschen ansichtig zu werden. Sie hat sich das Bedrohliche und das Rettende, das Unheil und das Heil immer wieder im Ensemble jener Urfiguren, die in der Menschenseele ebenso wie in der Geschichte dieser Welt am Werk sind, vor Augen gestellt.
„Die Welt ist tief/und tiefer als der Tag gedacht.“
Des Menschen Welt ist mehr als dies: Sie ist Gottes Werk und Instrument; des Menschen Zeit ist Tempus Dei, Zeit des langen Atems und der Geduld Gottes. Die aber hat Anfänge, wo sie enden sollte. Sie läuft nicht mechanisch geradeaus, sondern kennt die Umkehr. Sie ist offen in eine andere Dimension, wo sie sich vor unseren Augen schließen müsste. Wo anders könnte noch Hoffnung zu suchen sein? „Tempus Dei“ ist ein Versuch; ein Versuch immerhin am äußersten Thema. Niemand wird heute deuten, was geschieht, wenn er nicht nach den Grenzen tastet und sie, wenn es ihm gelingt, überschreitet.
Jörg Zink
Der Gedanke, eine Kirchenoper zu schreiben, beschäftigte den Komponisten Werner Jacob schon lange. Das große historische Vorbild, Cavalieris „Rappresentazione di anima e di corpo“, das Jacob erstmals 1972 in Edinburgh erlebte, wurde auf seine Initiative zur Internationalen Orgelwoche Nürnberg 1976 in St. Sebald szenisch aufgeführt. Das Spiel aus der Renaissance, die Parabel des Ringens um Seele und Körper des Menschen zwischen Gut und Böse, zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gott und Teufel beeindruckte das Publikum und ließ in Jacob den Plan zur eigenen Rappresentazione reifen.
Inzwischen waren antike Allegorien aktuell geworden. Von Britten bis Hambraeus, von Orff („De temporum fine comoedia“) bis Penderecki („Paradise lost“) versuchten zeitgenössische Komponisten, gegenwärtige Problematik in alten Formen zu behandeln und zu bewältigen. Werner Jacob nannte sein Opus „Tempus Dei – des Menschen Zeit“ ein „musikalisches Mysterienspiel“. Er meint damit keineswegs etwas Fernes, sucht nicht Weihestimmung noch fromme Magie oder verschleiertes Geheimnis. Ihm geht es konkret um die Zerstörung der Schöpfung durch den Menschen in unserer Zeit, in der die „Sintflut herstellbar“, der Untergang per Knopfdruck auslösbar geworden sind. Auf die Frage, warum er als Avantgardist für den modernen Konflikt nicht auch eine moderne Form der Darstellung wählte, sagte Jacob in einem Zeitungs-Interview: „Natürlich bekenne ich mich zu modernen Formen, nach wie vor. Aber für die Thematik, um die es hier geht, schienen mir allegorische Szenen am besten geeignet. Da kann man Jahrtausende zusammenraffen, kann mit Anachronismen umspringen, bekommt mehr Freiheit im Umgang mit Zeit und Raum als etwa in einer reinen Opernhandlung, die dramaturgisch viel enger zu begrenzen wäre“.
Ein musikalisches Mysterienspiel also scheint dem Anliegen künstlerisch angemessen. Jacob bekennt: „Ich habe in meinen Kompositionen alte Formen niemals negiert, selbst wenn sie nicht immer auf Anhieb erkennbar sind. Dabei habe ich allerdings immer versucht, sie mit meiner musikalischen Sprache zu füllen“. Er braucht dazu keinen Mammut-Apparat, nur ein mittelgroßes Orchester, Live-Elektronik, wenige Solisten. Die schwierige Chorpartie, die bis zu sechsunddreißig Stimmen übereinander schichtet, wurde vorher auf Tonband aufgenommen und wird zugespielt. Der Vokalstil fächert sich in acht Gesangspartien auf, von rezitativischer Deklamation, kleinintervallig, bis zu arioser Entfaltung. An Raumwirkungen, Beziehungen zwischen Klang und Architektur, ist ebenfalls gedacht.
Auf formale Traditionen (Kanon, Fuge, Passacaglia, Ricercare) greift Jacob in dem neunteiligen „Tempus Dei – des Menschen Zeit“ mehrfach zurück. Das Material des Anfangs, Introduktion und Passacaglia, wird im Epilog aufgegriffen. Man darf dabei an eine theologische Brücke denken zwischen Anfang und Ende; Alpha und Omega sind musikalisch verwandt. Aus der „Urmusik“ der Exposition entwickelte sich – so Jacob – „beim Kompositionsvorgang die ganze Reihe: die Schöpfungsmusik ist eine b-a-c-h-Reihe. Die Reihe der Zerstörung dagegen erscheint als All-Intervallreihe; sie stellt das Extrem dazu dar, steht für die Technisierung unserer Zeit. Dies war jedoch nicht von vorneherein so beabsichtigt, nicht konstruiert, es drängte sich vielmehr während des Schreibens auf“.
Ein klassisches Schema benutzt der Komponist auch für den Schöpfungsbericht der sieben Tage: eine Variationenfolge in Rondoform. Auf die differenzierte musikalische Charakterisierung – nicht nur vokal, sondern auch instrumental – verwandte Jacob besondere Sorgfalt. Adam und Eva, das Urpaar als Inbegriff alles Menschlichen, werden am farbigsten gezeichnet: Sie singen und sprechen, sind mit allem ausgestattet. Eva zum Beispiel schwelgt in Kantilenen (von hohen Streichern und sattem Holz begleitet).
„Die Zeit“, distanziert, kommentierend, und der Apostel Paulus, Vertreter der Theologie (begleitet von einem in sich gespiegelten Ricercare), sind reine Sprechrollen. „Fürst Welt“, der personifizierte Verführer zum Bösen, erscheint mit Pomp im grellen Blechgewand (Trompeten, Posaunen). Seine Zerstörungslitanei begleitet ein Teufelsgeiger à la Paganini und ein Miserere-Chor vom Tonband (dazu Ballett). Je nach ihrer Funktion sind auch die anderen Akteure musikalisch charakterisiert (Bauer, Handwerker, Technokrat).
Am Ende des vierten Teils (Triumph des Teufels) zerfällt die All-Intervall-Reihe, sie paralysiert sich selbst. Das Chaos ist total: In sieben Tagen vernichtet der Mensch die Schöpfung. Die Natur ist vergiftet, Menschen sterben massenweise an Krankheiten. Der Vision der Apokalypse folgt ein Intermezzo (Larghetto): Adam und Eva beginnen das Teufelswerk zu erkennen, das sie selbst als Mitläufer mitgemacht haben. Dann suchen die Überlebenden einen neuen Anfang. „Ist da jemand? Ist da ein Gott?“. Ihre Fragen klingen immer wieder in denselben Akkorden, nur jeweils anders instrumentiert. Niemand gibt Antwort, die dialektische Theologie des Paulus hilft den Menschen nicht weiter. Erst in der Vision des Johannes, am Beispiel der Märtyrer, gewinnen sie neuen Mut, erwächst Trost. Musikalisch äußert sich Johannes sehr lyrisch, melodisch; in den begleitenden Kontrabässen ist ein gregorianisches Agnus Dei versteckt.
Das Prinzip Hoffnung, die Chance, noch einmal zu beginnen, die Mahnung, es besser zu machen, drückt die Musik im Finale aus – aber nicht mit hellem, lautem Jubel; das Mysterienspiel endet, wie es begann: Adagissimo.
Fritz Schleicher
Graf Öderland (1984/85)
Eine Moritat in zehn Bildern
Text: Max Frisch
V: Breitkopf & Härtel
UA einer konzertanten Fassung: Vorspiel, Ballade, Intermezzo und Bekenntnis des Öderland,
3. März 1988, Nürnberg, Meistersingerhalle
Dorothea Wirtz, Sopran; Roland Hermann, Bariton; Philharmonisches Orchester Nürnberg; Leitung: Carlos Kalmar
Anmerkungen von Werner Jacob: Zu sich selbst und zu seiner Oper
(aus dem Programmheft zum Konzert)
Als ich 1956 aus meiner thüringischen Heimat nach Freiburg/Breisgau zum Studium kam, hatte ich einen riesigen Nachholbedarf an neuer Literatur. Die literarische Bewältigung des Krieges und der Nachkriegszeit, die ich als Kind noch sehr bewusst erlebt habe, beeindruckte mich zwar in Werken wie Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“ oder in Beispielen aus dem sozialistischen Realismus wie „Der stille Don“ oder „Wie der Stahl gehärtet wurde“, aber erst in Borcherts „Draußen vor der Tür“ und Max Frischs „Nun singen sie wieder“ fand ich Aussagen zu dieser Problematik, die für mich Gültigkeit hatten. Besonders Frischs Requiem wurde ein Schlüsselstück für mich: Es zeigt die Unsinnigkeit des Krieges, des sinnlosen Völkermordens…
Musikalisch war ebenfalls viel aufzuholen: An neuer Musik war außer Werken von Schostakowitsch und Chatschaturjan gerade noch Bartóks „Mikrokosmos“ gedruckt zugänglich, keine Werke von Schönberg, Webern, Berg, Strawinsky, nicht einmal von Paul Hindemith. Als ich im Bayerischen Rundfunk so um 1950 herum zum ersten Mal die „Lyrische Suite“ von Alban Berg hörte, war ich fasziniert, erschlagen… wie mag eine solche Partitur aussehen?
Musiktheater: In der Freiburger Kapellmeisterklasse von Carl Ueter (Hans Zender, Wolfgang Gayler, Isaac Karabtchevski waren die Studienkollegen) kam ich mit der Welt der Oper in erste aktive Berührung. Dort wurde mein ganzes Interesse auf das Musiktheater gelenkt. Als Schüler Wolfgang Fortners konnte ich näheren Einblick in den Schaffensprozess an Fortners ersten beiden Opern „Bluthochzeit“ und „Don Perlimplin“ (beide nach Lorca) nehmen. Seit dieser Zeit war ich selbst auf der Suche nach einem Opernlibretto, machte auch eigene erfolglose Textversuche…
1970 stieß ich das erste Mal auf den „Graf Öderland“ von Max Frisch. Aber durch die „Club of Rome“-Thesen wurde mein Interesse zunächst einmal auf andere brennende Probleme gelenkt: die Verletzlichkeit des Friedens in der Welt und die Erschöpfbarkeit unserer Welt. Ich schrieb „Da pacem“, „Musik der Trauer“, „Consummatio mundi“ und schließlich „Tempus Dei – des Menschen Zeit“, eine 1979 uraufgeführte Rappresentazione sacra, eine Kirchenoper. Die Darstellung dramatischer Vorgänge in der Musik, auch in Kammermusik- und Orgelwerken ließ mich nicht mehr los.
Nach „Tempus Dei“ brachte mich Joachim Kaiser wieder auf den „Graf Öderland“, er vermittelte die Bekanntschaft mit Max Frisch. Anlässlich der Uraufführung seines „Triptychon“ am Burgtheater traf ich 1980 mit Max Frisch in Wien zusammen. Nach anfänglichen Bedenken erklärte sich Max Frisch nach dem Anhören von „Tempus Dei“ mit der Veroperung seines „Graf Öderland“ einverstanden. Im Dezember 1981 war das Libretto dann zusammen mit Max Frisch fertiggestellt. Die Moritat vom „Graf Öderland“ wurde holzschnittartig gerafft, von den zwölf Bildern der Schauspielfassung auf zehn im Libretto konzentriert. Für die Figur der Coco hatte Frisch dann auf meine Bitte hin einen neuen Song-Text geschrieben.
Die Thematik des „Graf Öderland“ ist sozusagen überzeitlich. Da ist auf der einen Seite der Staatsanwalt (mit seiner Frau Elsa und Dr. Hahn in einer Dreiecksbeziehung stehend) in seiner „Midlife crisis“. Der Staatsanwalt, ein mit viel Phantasie ausgestatteter Mann, steht dem Mörder, einem völlig phantasielosen Menschen, gegenüber; der Staatsanwalt bringt dem Mörder Verständnis entgegen, er empfindet Mitleid, ja Sympathie für ihn – Sympathie und Mitleid nicht für das Opfer, sondern für den Täter… Verschiedene Themen spielen ineinander: der Ausbruch aus der Konvention, aus der eigenen Identität, der Ausstieg aus Pflicht und Karriere, der Verzicht auf die Macht – dies letztlich durch die phantastische Feenerzählung des Mädchens Hilde ausgelöst – , die Annahme einer neuen Identität, die ihm durch das Mädchen Hilde-Inge mit seiner „Öderland-Ballade“ quasi übergestülpt wird, der Aufbruch in die vermeintliche Freiheit, die in die Anarchie führt, also in erneuter Machtausübung, ja Gewaltanwendung landen muss. In überzeitlicher Gültigkeit und klassischer Verflechtung werden menschliche Urprobleme an den Figuren des Stückes dargestellt. Der einzige, der Symbole und Zeichen sehen, deuten, wenn auch nicht einordnen kann, ist ein etwas „irrer“ Hellseher. In vielen Punkten findet man sich selbst wieder, mit vielem kann man sich identifizieren.
Die Moritat vom „Graf Öderland“ ist formal von der Anlage her Dmitri Schostakowitschs Oper „Die Nase“ ähnlich. Die musikalischen Strukturen wechseln mit den einzelnen Szenen und Situationen. Jede Figur hat eine eigene Reihe, die alle von einer Grundreihe abgeleitet sind. Leitinstrumentationen charakterisieren die einzelnen Figuren. Verschiedene tradierte musikalische Formen werden szenenspezifisch verwendet, so z.B. eine isorhythmische Motette für die erste Gefängnisszene; in der zweiten wird sie nur noch mit dem Mörder zusammen quasi zitiert und den anderen Figurenausformungen in dieser Szene kontrastierend gegenübergestellt. In der Bankett-Szene (Die Herren der Lage) wird z.B. ein Wiener Walzer mit immer falscher werdenden Harmonien als Bühnenmusik verwendet. Rondo- und Variationsformen finden sich genauso wie eine Passacaglia, die dem letzten Bild zugrundeliegt.
Ist die Oper heute noch eine legitime musikalische Spezies, heute überhaupt noch möglich? Pierre Boulez hatte einst diese Frage verneint – bevor er in Bayreuth dirigierte. Aber solange es zwischen Menschen noch Sprache gibt, Dialog, wird es auch Theater geben, wird es auch Oper/Musiktheater in irgendeiner Form geben. Bewusster Verzicht auf die Oper würde Einengung, Verarmung bedeuten. Musiktheater ist für mich die selbstverständlichste Sache der Welt. Hier kann in einer Form Stellung zu den Problemen unserer Zeit genommen werden, wie es sonst nirgends anderswo in solcher Unmittelbarkeit geschehen kann. Die Formen werden sich ändern, werden mutieren, sich regenerieren; manches wird verschwinden und anderes wiederkommen. Aber solange Sprache und Musik existieren werden, solange werden sie zusammentreffen in ihrer dramatischen Verknüpfung der Form der Oper.
Werner Jacob